M: Früher renommierte Barockgeigerin, heute Improvisatorin Neuer Musik: Wie kam es zu dieser Entwicklung?
L: Ja, ich möchte sagen, daß mein Leben in zwei Teile geteilt ist. Etwa mit 50 Jahren kam die Improvisation und wurde das Wichtigste für mich. Das Konzertegeben habe ich dann fallenlassen und für nicht so wertvoll gehalten. Allerdings liegen die Hintergründe fürs Improvisieren weit zurück. Denn als ich mich entschloß, Musiker zu werden, war das ziemlich bitter, weil ich eigentlich immer kreativ war. Das hatte sich dann im Zeichnen und Malen ausgedrückt. Andererseits habe ich die Musik immer mehr geliebt als die Bildende Kunst, und es war bei mir immer der Zwiespalt da: wenn ich mich für die Bildende Kunst entschließe, kann ich schöpferisch sein, und wenn ich Musik mache, die ich eben lieber habe als die Kunst, kann ich nicht schöpferisch sein. Dann habe ich eben doch zur Musik gegriffen, aber irgendwann ging das nicht mehr. Ich begegnete dann auch einzelnen Musikern, die ähnlich gestimmt waren wie ich, und in einer Tagung kam es sogar zur Sprache. Jemand sagte:”Jetzt sitzen wir alle zusammen und können doch nicht zusammen spielen, weil wir keine Noten haben. Das ist doch schlimm!” Und das hat mir Eindruck gemacht.
Wie die Übergänge waren, weiß ich nicht mehr. Irgendwann, als ich Ende 40 war, hatte ich Gelegenheit, mit Musikstudenten zu verkehren, und da habe ich mit einigen von ihnen angefangen zu improvisieren. Wahnsinnig harmlos und trivial. Und von da an habe ich nicht mehr aufgehört, wo ich auch hinkam, und das hat sich immer erweitert. Ich ging dann nach Hamburg, weil ich wußte: aus diesem Improvisieren muß was werden, aber dazu gehört eine Großstadt. Und kaum war ich da, war gleich ein Kreis von Leuten um mich, die mit mir improvisieren wollten. Das war Zufall, durch Menschen, die in der Wohnung waren. Aber es war sofort Interesse da. Und das Interesse ist nie abgerissen. Weder von denen, die was von mir wollten, noch von mir. Und es hat eben sowohl künstlerische als auch therapeutische Bezüge gehabt.
M: Zu Anfang deines Studiums hast du einige Semester Tonsatz bei Hindemith belegt. Da konntest du ja auch musikalisch kreativ sein. Warum hast du das nicht weiter verfolgt?
L: Ich war nicht begabt im Hinschreiben und innerlich hören. Ich konnte wohl die Sopran- und die Alt-Stimme innerlich hören, aber für die tiefen Stimmen fehlte mir die Vorstellung. Ich konnte eigentlich nicht so stumm etwas hinschreiben. Es fehlte dann die Inspiration.
M: Und daraus entstand später die Idee, kreativ im praktischen Tun zu sein?
L: Ja, aber man kann nicht sagen, daß das eine Quelle hat. Es hat mehr. Eben auch diese Freude am Improvisieren. Die kann ja meiner Meinung nach noch größer sein als die Freude daran, daß man zusammen Kammermusik macht.
M: Als du anfingst zu improvisieren, hattest du da schon irgendwelche Vorbilder oder improvisatorische Vorkenntnisse?
L: Also bei Hindemith, da gab es eine Spielart, die nannte sich “Räuberorchester”. Das bestand zum Teil daraus, daß wir das spielten und ausprobierten, was wir komponiert hatten, und andererseits haben wir da tatsächlich ein bißchen versucht zu improvisieren, aber das hatte noch gar keine Facon. Es nannte sich eben auch Räuberorchester, woran man erkennt, daß wir gar nicht vorhatten, daß was Brauchbares daraus wurde. Wirklich nur zum Jux. Hindemith war dabei.
M: Du hast aber später die Erfahrung gemacht, daß Improvisation mehr sein kann als nur Jux. Auf welche Weise können denn brauchbare Ergebnisse zustande kommen?
L: Es gibt gewisse Dinge in der Musik, die leicht, andere, die schwer zu machen sind. Und das Leichte, was auch der Folklore entspricht, ist, daß es einen bleibenden Untergrund gibt. Das ist in der Folklore in den entferntesten Erdteilen sehr üblich. Der Grund bleibt, der einen anregt, und worüber man dann phantasieren kann. Und da gibt es sehr viele Möglichkeiten, wie man über dem Grund spielt: z.B. melodisch abwechselnd, oder über dem Grundton einen Klang aufbauen, der wiederum das Bleibende ist unter dem, was dann der Einzelne improvisiert. Oder daß zwei sich anspielen, wie wenn sie miteinander reden. Und das können dann auch drei sein. Und aus diesen Möglichkeiten kann man also sehr, sehr viele Spiele entwickeln.
M: Improvisationsaufgaben in Spielform zu kleiden ist ja eines der wichtigsten Merkmale deiner Methode.
L: Ja, zu den Spielregeln gehören aber erstmal Erkenntnisse, die ein Komponiost auch haben muß.
H: Wie sammelt man die Erkenntnisse beim Improvisieren?
L: Ich würde sagen, das ist ein Gemisch aus Erfahrungen mit traditioneller Musik und dem, was man auch selbst noch für möglich hält. Also es wird einem da sehr viel klar. Das war auch eine ziemlich schwierige Erfahrung mit den Gruppen. Es gab einige Spieler, die merkten, daß das nur ein Durcheinander ist, wenn man einfach so improvisiert, und andere, die dieses Durcheinander herrlich fanden, die zufrieden waren, wenn sie mit einem von acht Partnern duettierten, mitten während die anderen auch spielten. Da gab es also die dollsten Dinge. Und da habe ich mich manchmal schwer vergangen, indem ich unzufrieden war; denn die strengste Regel, die man beim Improvisieren als Leiter befolgen muß, ist, daß man nicht kritisiert. Und die habe ich erst lernen müssen (lacht).
Und da muß man wie ein Komponist auf Erkenntnisse kommen, was geht und was nicht geht. Was klingen kann und was auf alle Fälle nicht klingen kann. Manchmal habe ich auch Gleichnisse verwendet, z.B. die Vorstellung von einer Bewegungsart, etwa, wenn im Herbst Blätter fallen. Dann kommt bei den Teilnehmern der Improvisation etwas Einheitliches heraus: etwas Lebendiges und keineswegs eben Festgeformtes, aber Einheitliches im Charakter.
M: Also ein “Einstieg in neue Klangbereiche”, wie ja eines deiner Bücher heißt. Warum wolltest du denn weg von der traditionellen Harmonik?
L: Wenn man echte Gruppenimprovisation machen will, dann kann man nicht bei der alten Harmonik bleiben. Da ist man ja festgelegt. Man muß sich also entscheiden, ob man traditionelle Harmonik verwenden will oder improvisieren. Wenn ich keine Melodie habe, nichts was festliegt, dann kann ich nicht harmonisch improvisieren. Das geht nicht.
“WAS WILL MEINE HAND?”
M: Bei dir ist ja ein ganz wichtiges Merkmal, im Vergleich zu anderen Leuten, die mit Improvisation arbeiten, daß die Tonhöhe keine so wichtige Rolle spielt. Es geht eher darum, z.B. aus der Bewegung heraus zu erfinden. Man trifft zwar gewisse Töne und korrigiert sie vielleicht noch ein bißchen, aber wichtiger ist doch eigentlich der Bewegungsimpuls.
L: Genau, ja.
M: Aber andere Leute finden ja, daß man sowas nicht machen kann. Die Tonhöhe war doch immer das Wichtigste! Und in der Musiktheorie geht es zu 90% um Tönhöhen, Harmonik, Skalen. Insofern ist das ja ungeheuer radikal, wenn du sagst: die Tonhöhe ist nicht so wichtig.
L: Also für mich ist mehr und mehr der Bewegungs-Impuls das eigentliche, schöpferische Element gewesen. Also: Was will meine Hand? Die Hand ist doch nicht außerhalb von mir! Das bin ich doch immer, wenn meine Hand was will. Und das läßt sich auf den Stabspielen ganz besonders leicht realisieren, daß das, was meine Hand will, sich auch in Musik umsetzt. Wenn ich geige, muß ich natürlich viel gelernt haben – beim Klavierspielen wahrscheinlich auch – damit dann, wenn ich mich einfach meinem Bewegungsimpuls überlasse, trotzdem noch etwas dabei herauskommt, das man hören mag.
M: Das ist ja auch ein Erfahrungswert in den Gruppen, die du machst. Bei den Leuten, die es geschafft haben, sich auf ihre Bewegung zu verlassen, kommen tatsächlich die interessantesten und zum Teil auch sehr komplizierte Sachen heraus, die man gar nicht so leicht auf das Instrument übertragen könnte, wenn man sie sich im Kopf ausgedacht hätte.
L: Oder denk einmal an den Maler, der Skizzen macht. Das ist ja auch ein Bewegungsakt, nicht wahr? Der hat sich ja nicht ganz genau vorher vorgenommen:”Da soll das Dach enden, und da soll es anfangen.” Ich habe manches Mal einen Maler skizzieren sehen. Das ist nach meiner Meinung ein Bewegungsakt – unter anderem.
M: Eine wesentliche Rolle bei dir spielt die Klangfarbe. Ich habe den Eindruck, das sind die beiden wesentlichen Ausgangspunkte: Bewegung und Klangfarbe.
L: Das stimmt. Und dazu war die Zeit, in der ich improvisierte, sowieso sehr trächtig. Also, das war um 67 herum, wo sowieso alles aufgebrochen wurde, und wo ich auch in der Hochschule anfangen konnte, zu improvisieren. Da hat man eben wer weiß was für Gegenstände ausprobiert. Da hat man alles mögliche zusammengestellt. Eine Weile hatte ich wer weiß was für Sachen bei mir ´rumstehen, von denen ich mir einbildete, daß sie Klang hergäben, und die wurden dann ganz allmählich wieder reduziert auf das, was wirklich klingt. Aber eine Zeitlang haben wir auch auf die Tische geklopft und ich weiß nicht was alles. Wir haben z.B. Ratespiele gemacht, bei denen verschiedene Gegenstände, die irgendwie klingen, bereitstanden. Wir mußten die Augen zumachen, und einer hat diese Gegenstände angeschlagen, vielleicht zwei oder drei von ihnen in einem bestimmten Rhythmus. Und dann reichte er seinen Schlegel irgendjemandem von den Zuhörenden, und die mußten jetzt die 3 Schläge finden, möglichst sofort. Das waren schöne Spiele… Naja, das war alles nicht sehr schöpferisch, aber darum ging es nicht.
“ES MUSS AUCH GESTALTET WERDEN!”
M: Damals kam ja durch Cage, Cardew u.a. viel in Bewegung.
L: Ja, und es gab diese gewürfelte Musik, die Aleatorik. Das habe ich aber nicht mitgemacht! Ich habe mir solche Aufnahmen aber sehr oft vom Rundfunk aufgenommen. Und dann habe ich das auf Band angehört:
“büdlbdübldübldüblüdbbldübldüblüdlbdmbmmm…”
Nachdem ich das eine Weile gehört hatte, habe ich etwas überschlagen und dacht, nun kommt was anderes:
“übdbldüblüdlüdlübldbdbdülülülbdlbdbdmmm…”
Habe ich wieder überschlagen….kommt was anderes:
“büdlbüdlüldübdlbüdlülbüdlbüdlbüdlübldübdmmm…” (lacht). Ja, und da habe ich gedacht: So mache ich es nicht! Es muß auch gestaltet werden.
M: Was heißt das?
L: Nun, ich hatte ja auch immer noch das Traditionelle dabei, also über einem Teppich eine Melodie zu machen, also einen Vorgang, und mir lag daran, daß allen klar wurde, was ein Vorgang ist, was also nicht irgendwie endlos so weitergehen kann, sondern was Mitte und Ende hat.
H: Und das Mittel dazu, war die Melodie, das Studium der Melodie?
L: Ja. Sicher, aber von da aus kann man ja auch improvisieren, ohne an eine Melodie zu denken. Und da gibt es ja keine bestimmten Regeln, man kann nur hinterher sagen: “Ja, das war überzeugend” und kann sich überlegen, warum.
Ich habe allmählich versucht, da irgendeine Ordnung reinzukriegen. Es gab zwei Möglichkeiten, die mir eigentlich immer klar waren. Entweder ist es assoziativ, daß wir eine gemeinsame Vorstellung haben, oder es ist eine gewisse Struktur oder besser gesagt eine gewisse Hierarchie: einer hat die Führung, einer spielt Baß und solche Dinge. Da habe ich also angefangen, Spielregeln zu machen. Und die Spielregeln waren eben früher ziemlich abstrakt, also ohne Assoziationen, und inzwischen finde ich das assoziative Improvisieren irgendwie befriedigender. Es kommt mehr dabei heraus und es wird einheitlicher. Ich meine jetzt, wenn man das mit Laien oder weniger Geübten macht, nicht?
M: Deine Spielregeln sind ja so angelegt, daß bei gelungener Interpretation gute Musik entsteht. Für mich ist daher eine Regel wie “Sonnen” eine Art Komposition.
L: Nein, es ist keine Komposition, sondern eine musikalische Form: Das ist keine Sonate, es sind eben “Sonnen”
H: Vielleicht könnte man es so sagen: Spielregeln, die du in deinen Gruppen gibst, sind gewisse Anweisungen, die mehr helfen als daß sie Herrschaft ausüben. Sie schaffen Ordnung, ohne daß die Mitspieler jemandem gehorchen müssen.
L: Ja, ganz richtig. Sie lassen also jedem Freiheit, und die Freiheit, die jeder hat, ist nicht eingeschränkt durch ein Verbot von vornherein, sondern nur eingeschränkt durch wachsendes Feingefühl für die Partner.
“DAS HAT MICH TATSÄCHLICH UMGEKREMPELT.”
H: Partnerbezogenheit ist ja für dich ein wichtiger Begriff. Bist du deswegen zur Gruppenimprovisation gekommen, weil du da Gelegenheit hast, mit anderen musikalisch zu sprechen und wechselseitig zuzuhören?
L: Ja, da muß ich dir leider gestehen, daß ich früher sehr sachlich eingestellt war. Ich wollte improvisieren, aber das Einstimmige hat mich gelangweilt, und ich brauchte Partner (lacht), weil ich interessantere Musik machen wollte. Und allmählich habe ich gemerkt, daß da menschlich sehr viel passiert, und das hat mich enorm verändert. Ich war früher eine entsetzlich sachliche Person. Und das hat mich tatsächlich umgekrempelt. Seitdem habe ich auch viel mehr Freunde und kann die anderen viel mehr verstehen. Das hat mich sehr verändert. Und die andern verändern sich auch so ein bißchen dabei.
M: Wenn wir schon bei Veränderungen sind: Du hast einmal erzählt, daß du durchs Improvisieren politisch geworden bist.
L: Zu gleicher Zeit geschah das. Ich weiß nicht wie herum, das sind Dinge, die unbewußt sind. Es könnte sein, daß der innere Widerstand, der mich überkam, als man mir von Brokdorf und all den Dingen erzählt hat, daß mich der überhaupt verändert hat. Ich weiß nicht, ob ich das auf andere übertragen kann. Wenn man so etwas Ungelöstes, einen Widerstand, einen hoffnungslosen Widerstand empfindet, dann muß irgendwas raus. Man kann es nicht aussprechen, man kann mit Gleichgesinnten darüber sprechen: das nützt gar nichts. Und es muß aber doch ´raus, der innere Widerstand! Ich glaube, daß es damit zu tun hat.
“ORDNUNG OHNE HERRSCHAFT”
M: Die Improvisation war dann also ein wichtiges Ventil, um die Realität zu verarbeiten. Bei deiner Gruppenimprovisation gibt es ja auch Ideale, die eigentlich politisch sind: Da sagst zwar als Spielleiterin die Spielregel an, aber wenn das Musizieren losgeht, gibt es keinen Spieleleiter mehr, dann sind alle gleich. Das erinnert an alte Ideale z.B. der französischen Revolution: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit.
L: Die Gleichheit ist das Wichtige! Freiheit nicht. Freiheit gibt´s bei uns nicht. Freiheit ist ein schlechtes Ideal, wenn es nicht eigene Entscheidung unter Berücksichtigung meiner Mitmenschen ist. Freiheit gibt es nicht. Aber Gleichheit! Am Anfang meines neuen Buches habe ich ein Sprüchlein:”Ordnung ohne Herrschaft – ein schöner Traum? Hier kann es gelingen: im kleinen Raum!” Dieses Ideal im Kleinen, das nicht die Welt umspannen will, das aber im Kleinen funktionieren kann.
H: Also ein Ort politischer Utopie! Ein Vorbild, ein Modell.
L: Ja, ein Modell. Eine Utopie wäre unerfüllbar, aber dies ist ja erfüllbar. Die Gleichheit ist erfüllbar – im kleinen Raum. Unter wenig Menschen. Jaja, das ist natürlich ein Grundprinzip, aber ich muß sagen, daß ich nicht zuerst das Prinzip hatte und dann improvisierte, sondern daß ich erst improvisiert habe und mir das Prinzip erst allmählich aufging (lacht). Das ist mir sehr wichtig, seeeehr wichtig! Daß ich das nicht heranphilosophiert habe!
“JETZT KANN ICH REDEN!”
M: Deine Arbeit fand auch in musiktherapeutischen Kreisen großen Anklang. Wie kam das?
L: Ja, also eine Absicht, irgendjemandem therapeutisch zu helfen, habe ich nie gehabt. Zunächst. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, daß ich damit jemandem helfen könnte. Aber es ist mir einfach gesagt worden. Mütter sagten das von ihren Kindern, daß sie artiger sind, und Eltern sagten das von Heranwachsenden, daß sie sich verändert haben, und Eltern sagten das sogar von jemandem, der Asthma hatte, und bei dem das Asthma in der Zeit, als er regelmäßig kam, gemildert wurde. Ich habe also immer wieder freiwillige Äußerungen gehört, daß seelisch bedingte Erscheinungen sich milderten, nicht geheilt wurden.
M: Du wurdest ja auch manchmal aufgefordert, musiktherapeutische Regeln zu zeigen.
L: Ja, das war z.B. einmal bei einem musiktherapeutischen Kongreß, wo sehr viele Leute gekommen waren. Die Leiter dieses Kongresses fragten: “Frau Friedemann, können Sie nicht mal mit dieser Gruppe hier improvisieren?” Und die hatten nicht ein einziges Instrument. Was sollte ich machen? Da ich nun zwischen den Therapeuten war, mußte ich mich ja ein bißchen bewähren. Und da waren also 25 Menschen, die darauf warteten, beschäftigt zu werden, die nicht selbst Therapeuten waren. Und dann habe ich zu ihnen gesagt: “Jeder möge für sich ein interessantes Wort wählen und vor sich hinsagen, mal mit Pausen, mal leise, aber gelegentlich ganz laut, so daß er der allerlauteste ist. Jeder soll sein Wort irgendwann ein paarmal so laut sagen, daß er alle überschreit. Jeder! Dazwischen vor sich hinmurmeln und dann soll er schreien.” Und das haben wir dann getan. Und ich habe es auch getan, und jeder hat immer ordentlich geschrien. Und als wir fertig waren, da kommt eine Frau zu mir und sagt:”Jetzt kann ich reden!” Ich war völlig überrascht.
M: Es stellte sich also heraus, daß die Dinge, die Du eigentlich aus musikalischen Überlegungen heraus machtest…
L: …zum Vergnügen! (lacht)
M: …zum Vergnügen, daß die einfach auch therapeutisch wirksam waren, ohne einen Anspruch deinerseits, therapeutisch zu arbeiten. Grenzt du dich eigentlich in irgendeiner Weise von der Musiktherapie ab?
L: Eigentlich nur insofern, als ich es nie gelernt habe. Und wenn ich es mache, ist zunächst aus Versehen etwas Therapeutisches daraus geworden. Und ich habe einige Dinge gefunden, z.B. daß “Schritte klopfen” therapeutisch Erfolg hat. Also als Selbstbehauptung, gegen Schüchternheit. Einige Dinge, einige wenige Dinge weiß ich. Aber das ist ein kleiner Teil, und ich bin einfach musikalisch zu sehr interessiert, um das um der Therapie willen hintan zu stellen.
“WENN WIR IMPROVISIEREN, TANZEN WIR AUF EINEM SEIL”
M: Du gibst mit Gruppenimprovisation auch öffentliche Konzerte. Kann sich das wirklich hören lassen?
L: Ja, ich würde so sagen: Wenn ein Seiltänzer sein Seil auf die Erde legt und darauf entlanggeht, das lohnt nicht, zuzusehen. Aber wenn er es durch die Luft legt, dann ist es spannend, weil es gefährlich ist. Und wenn wir nach Noten spielen, gehen wir auf der Erde entlang, und wenn wir improvisieren, tanzen wir auf einem Seil, und das ist spannend zuzuhören.
M: Die Zuhörer finden also die Musik vor allem dann spannend, wenn sie vorher wissen, daß sie improvisiert ist. Wenn sie es nicht wüßten, würden sie dann die Musik nicht so spannend finden?
L: Glaubst du nicht, daß man das merkt? Wenn da Leute sitzen, die haben keine Noten vor sich, dann merken doch die meisten: da ist irgendwas… äh… locker (lacht).
M: Das Spannende für dich ist also das Risiko, das man als Musiker damit eingeht?
L: Ich würde sagen, wenn ich im Film einen Mann auf dem Seil tanzen sehe, dann weiß ich schon: Das ist gut abgelaufen, sonst würde es nicht auf den Film kommen.
H: Ja, aber die spannenden Filme wirken ja spannend, obwohl man weiß, daß die Schauspieler nicht zu schaden gekommen sind. D.h. die Spannung beruht auf dem Eindruck von Gefährlichkeit, aber nicht auf einer echten Lebensgefahr. Und so ist es, glaube ich, auch mit komponierter Musik. Man hört ihr dann gern zu, wenn sie wie improvisiert wirkt. Steckt bei dir nicht umgekehrt der Anspruch dahinter, daß eine Improvisation wie komponiert klingen möge? Wie gut komponierte Musik?
L: Ja – es ist aber doch einiges wahrscheinlicher und einiges unwahrscheinlicher. Das Lebendige und das Abenteuerliche ist wahrscheinlicher, und daß es jeden Augenblick kompositorisch gut gebaut ist, das ist unwahrscheinlicher.
M: Jetzt machst du dich aber kleiner als du bist. Wir nehmen doch unsere Improvisationen regelmäßig auf, um sie wie eine Komposition beurteilen zu können und für die Zukunft daraus zu lernen. Und mit unseren Improvisationskonzerten wollen wir doch neben Konzerten mit komponierter Musik bestehen. Es gibt aber viele Skeptiker, die sagen: kompositorische Maßstäbe kann man an Improvisation nicht anlegen.
L: Leute, die so etwas behaupten, haben eben nie Improvisation geübt. Das ist ja auch nicht üblich: Entweder man improvisiert, dann überläßt man sich dem Schicksal und hat auch nicht vor, daß dem Bedeutung beigemessen wird. Oder man übt fleißig nach Noten und arbeitet schwer. Wir aber arbeiten schwer daran, daß durch die Übung im Aufeinander-Hören und im Gestalten nachher etwas herauskommt, das interessieren kann.
M: Also Improvisation als Handwerk!
L: Ja, was man üben und lernen kann!
H: Als Handwerk, in dem nicht nur nach Ausdruckskritereien gearbeitet wird, sondern auch nach rein musikalischen Kriterien.
L: Ja, schon, sicher. Wobei also ein Ausbruch aus allen Kriterien unter Umständen mal das Beste sein kann, wenn es ein ganz wahrer Ausbruch war, nicht?
M: Es wird oft behauptet, beim Improvisieren reproduziere man doch nur all die musikalischen Erfahrungen, die man gemacht hat. Kann improvisierte Musik wirklich innovativ sein?
L: Absolut! Erstens ist es doch bei Komponisten auch so, daß sie in sparsamen Schritten neue Dinge hineinbringen. Und wir können wohl von wenig Komponisten sagen, daß sie gar nichts schon Gewesenes hineinbringen. Das ist eine ganz allmähliche Entwicklung und nichts ist völlig neu. Und unsere Chancen sind nach meiner Meinung noch größer als für die Komponisten, wirklich neue Musik zu machen. Der Augenblick, der Impuls, ist doch sehr viel wert. Aus einem bestimmten Augenblick, einem bestimmten inneren Zustand heraus, kann man vielleicht zu mehreren plötzlich etwas schaffen, was interessant ist, was für den Einzelnen schwer sein könnte.
“BACH BLEIBT FÜR MICH DAS DOLLSTE!”
H: Trotzdem fungiert komponierte Musik manchmal als Vorbild oder auch als Maßstab für die Improvisation. Ich denke daran, daß du oft Webern erwähnst als ein großes Vorbild, dem du nachzueifern versuchst. In welcher Beziehung?
L: Also wenn ich improvisiere, denke ich keinen Augenblick an Webern!
M: Aber wenn du dir´s nachher anhörst!
L: Ich habe Webern einfach so erlebt, daß ich denke: so müßte man eigentlich auch improvisieren können, wenn wir vier geniale Menschen wären, also eben so genial, so augenblicksbetont und so impulsiv. Was ich am besten kenne, das ist opus 6. Diese Stücke, die klingen dermaßen aus dem Augenblick heraus, sie klingen so spontan. Und dabei steckt eine wahnsinnige Arbeit dahinter, und er weiß entsetzlich viel, was er tut. Es ist gar nicht spontan, aber es klingt absolut spontan, wie so herausgelaufen. Aber ich denke nicht, daß ich improvisieren will wie Webern.
H: Aber es gibt Situationen beim Proben, da nehmen wir ein Stück auf, hören es an, und du sagts:”Wir müßten mal wieder Webern hören, das fehlt uns jetzt!”
L: Ja, das stimmt.
H: Oder auch: “Wir müßten mal wieder das Streichquartett von Cage hören.” Gibt es noch andere Komponisten oder einzelne Kompositionen die so eine Maßstabwirkung haben, Orientierungspunkte sind?
L: Ja, ich könnte mir denken, wenn wir ein überzeugendes Stück von Ligeti hören würden, würde es uns ähnlich gehen. Aber ich könnte mir nicht denken, daß uns ein Stück von Stockhausen innerlich wandelt.
M: Du läßt dich ja nicht nur von Musik inspirieren.
L: Richtig, da hatten wir auch die Bilder von Miró. Da könnten wir noch andere finden, z.B. Klee, das wäre auch sehr musikschaffend.
H: Du hast die Hälfte deines Lebens…
L: …alte Musik gemacht.
H: Alte Musik, was damals alte Musik hieß, also Bach. Welche Rolle spielt überhaupt diese Tradition jetzt noch in deinem Musizieren?
L: Also ich höre ja sehr viel Rundfunk. Und Bach bleibt für mich das Dollste, besonders, wenn Bachs Musik mit Text verbunden ist. Wie er das ausdrückt, das ist einfach unglaublich.
M: Es gibt ja Prinzipien von Bach, die du auch auf unser Spiel überträgst.
L: Ja?
H: Ich finde z.B. die Bach´sche Polyphonie, das Prinzip, etwas hinzustrellen und dazu eine Ergänzung zu finden, einen Gegensatz…
L: Ja, sicher.
M: Oder du zitierst oft den Spruch von Bach, daß eine Melodie durch ein unterlegtes Pizzicato in ihrer Wirkung noch verstärkt wird.
L: Ja, in ihrer melodischen, singenden Wirkung, ja. Nun ja, das ist eine Erfahrung, nicht? Aber Bach ist einfach so ein gewaltiger Mann, der an die tiefsten Zonen greift, ich kann mir nicht helfen. Und besonders zu Zeiten, wo ich erschüttert bin, da ist eben Bach also ein ganz besonderes Erlebnis, das bleibt sicher auch so.
In der letzten Zeit achte ich mehr als sonst auf Beethoven, das ist für mich jetzt was Neues, Beethoven. Ich habe das Gefühl, Beethoven musiziert nicht nur, ich habe das Gefühl: Beethoven will uns etwas sagen, und zwar ganz energisch, so! Er ist so wahnsinnig eindringlich. Und notwendig. Es ist eine so unglaubliche innere Notwendigkeit; vielleicht kann man das erst als reiferer Mensch erleben.
M: Innere Notwendigkeit ist für dich auch ein wichtiges Kriterium in der improvisierten Musik. Du sagst: Man muß hören, daß die Dinge, die aufeinander folgen, aus einer Notwendigkeit entstehen, daß es nicht genausogut anders weitergehen könnte, sondern daß es genau so weitergehen muß.
L: Ja, das ist also die Folge, aber ich meine, bei Beethoven ist der Einfall an sich schon eine innere Notwendigkeit. Während ich bei Mozart denke: Er spielt, er spielt, er spielt, und die wunderbarsten Figuren fliegen durch die Luft.
H: Du schreibst gerade ein Buch, nicht das erste. Aber im Gegensatz zu den früheren Büchern, die Dinge aus der Praxis für die Praxis zeigen – Spielregeln für die Improvisation mit Kindern, ein ganz altes Buch: Improvisation zu Weihnachtsliedern, dann das letzte: Spielregeln eigentlich für jeden Bereich in “Trommeln – Tanzen – Tönen” und dazwischen die Schriften, die Beispiele für Gruppenimprovisation, Kollektivimprovisation zeigen – ist das neue Buch ein mehr theoretisches. Worum geht es darin?
L: Ja, eine Zusammenfassung und nicht nur eine Überschau, was alles da möglich ist, sondern eben auch die Haltung, aus der heraus man das macht. Also über die Improvisation mit Kindern, mit Erwachsenen, in welchen Situationen, das ist ein wahnsinnig weites Feld. Zum Beispiel, wenn ich nur diese drei Begriffe herausnehme: Ichstärkung, Partnerbezogenheit und Kreativität – das sind schon drei ordentliche Brocken, nicht? Und dazu kommt noch Improvisation in der Schule und in der Therapie.
M: Du hast deine Prinzipien und Erkenntnisse aus der praktischen Erfahrung gewonnen und nicht umgekehrt. Deswegen ist auch das theoretische Buch das letzte in einer langen Folge von Büchern für die Praxis.
L: Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß man sich irgendetwas ausdenkt, was man nicht vorher ausprobiert hat. Aber es gibt ja viele Menschen, viele Bücher, bei denen das stattfindet.
H: Ja. Und es gibt auch viele, die etwas erreichen wollen und dann nach Mitteln suchen, zum Beispiel Musik als Mittel zum Zweck benutzen. Das tust du nicht; du bist, wie ich es sehe, durch und durch Musikerin.
L: Ja, schon. Aber es freut mich doch, wenn die Leute sagen: Es hat mich verändert, es hat mir das Leben erleichtert.