Pädagogischer Eros

Lilli Friedemann, Musikpädagogin, 1906‑1991

von Barbara Gabler

Erstveröffentlichung in: UNTERSCHIEDE Band 6, 1993

Vielen Pädagogen und Pädagoginnen gelingt es kaum, etwas beizubringen, mögen sie noch so viel wissen oder sogar das Erziehen auf der Hochschule gelernt haben. Andere wenige wecken toten Stoff zum Leben, erschließen neue Welten und Fähigkeiten. Da springt ein Funke über. Bei Lilli Friedemann zum Beispiel. Das Porträt der im Dezember 1991 im Alter von 85 Jahren verstorbenen Musikpädagogin ist mehr als ein Nachruf; es ist ein Versuch zu beschreiben, was ihren pädagogischen Eros ausgemacht hat.

Lilli Friedemann als junge Geigerin

Während meines Schulmusikstudiums in München wuchs in mir das Gefühl, in einem Museum zu stecken. 1967 hielt Lilli Friedemann einen Kurs an der Hochschule. Nie zuvor war ich auf eigene gestalterische Fähigkeiten angesprochen worden, aber zu meinem Erstaunen waren sie da. Musik entwickelte sich, indem die Spieler aufeinander reagierten, Mehrstimmigkeit entstand von selbst. Wie Schuppen fiel es uns von den Augen ‑ Neue Musik ist ja gar nicht kompliziert, es gibt eine neue Umgangsform, bei der nicht „wenige Auserwählte“ produktiv sind und die übrigen nur ausführen. Auf musikalischem Gebiet fanden wir die Impulse der Studentenbewegung verwirklicht und waren begeistert. Die Begeisterung ging von ihr aus, sie war der Schlüssel, Herzen zu öffnen, Geist zu wecken, Haltung zu verwandeln. Oft wurden Improvisationen zu Momenten gesteigerten Erkennens und Erlebens.

Aufbruch statt Ruhestand

Als Lilli Friedemann in den 60er Jahren begann, mit nicht herkömmlichem musikalischem Material zu experimentieren, erkannte sie ihren wahren Beruf: die Improvisation. Sie packte ihren Koffer, verließ die sichere Göttinger Hochschulstellung und begann eine neue Existenz mit der einzigen Sicherheit der Überzeugung, daß es richtig sei. Sie hatte ihren Beruf als Geigerin begonnen, ausgebildet u.a. bei Carl Flesch an der Musikhochschule Berlin, wo sie zusätzlich Tonsatz bei Paul Hindemith studierte. An Musikakademien in Danzig (1940‑45) und in Hannover (1947‑49) leitete sie Geigenklassen und unterrichtete Geigenmethodik. Es folgten Reisejahre als Solistin und als Leiterin eines Streicherensembles, das mit alter und neuer Musik konzertierte.

In der Gruppenimprovisation sah sie schöpferische, musikerzieherische und sozialpädagogische Möglichkeiten vereinigt, mit denen sich eine produktive Verbindung zur Neuen Musik herstellten ließ. Sie lebte ab 1967 in Hamburg und ab Mitte der 70er Jahre in Mölln „ganz der Improvisation“, lehrend und schreibend. 1964 gründete Lilli Friedemann den heute noch bestehenden Verein „Ring für Gruppenimprovisation“. Er veranstaltet Improvisationskurse und veröffentlicht Mitteilungen („Ringgespräch“) aus den verschiedenen Bereichen der Improvisation unter künstlerischem, pädagogischem und therapeutischem Aspekt.

Üben, üben

Wie jede musikalische Fähigkeit muß auch improvisieren gelernt und geübt werden. Eine Ästhetik des „Alles ist Kunst“ war ihr fremd. In Beliebigkeit könne sich kein musikalischer Sinn erfüllen. Spieler ins Chaos tappen zu lassen, lehnte sie ab. Von daher gewinnt die Funktion des Anleitens eine besondere Bedeutung, und so erklärt sich auch die große Fülle an Spielideen, die sie mit unerschöpflicher Phantasie ersann. „Kreativität ist nur denkbar im Spielraum zwischen Freiheit und Begrenzung… Die einzelnen Freiheitsbegrenzungen werden als Spielregeln bezeichnet“ (Lit.4, S.9) Den methodischen Weg an Spielregeln zu knüpfen, war ein genialer Einfall. Es existiert ein klares Vorverständnis, jede(r) akzeptiert die Verbindlichkeit, kennt den Spaß, weiß, daß sie Voraussetzung ist, um gemeinsam etwas zu machen, zeigt den jeweiligen Inhalt an.

Die Spielregeln sind in Lilli Friedemanns Konzept progressiv angeordnet in unterschiedlicher Hinsicht Eine Linie führt vom engen Freiraum hin zur freien Interaktion, ein anderer Weg folgt Stadien der Persönlichkeitsentwicklung:

„Von der Bezogenheit auf sich selbst zur Kommunikation und Reaktion auf die Partner, von der Nachahmung zur Selbständigkeit, zur Initiative und zum bewußten ‚Gegenspielen‘, von der spontanen und rohen Vitalitätsäußerung zu Gestaltung und Differenzierung, von der ganzheitlichen Darstellung zu assoziativen Gestaltungsinhalten und zur Abstraktion (z.B. zu ‚absoluter‘ Musik), von Gestaltungen in zuständlicher Form (als ungefähre Wiederholungen) zur Gestaltung von Entwicklungsformen“ (4, S.4). In der Erläuterung dieses Aufbaus heißt es: „Tatsächlich sind die obengenannten Ausgangspunkte, etwa die Bezogenheit auf sich selbst oder der Nachahmungstrieb, ja nicht Dinge, über die Erwachsene endgültig hinauswachsen bzw. hinauswachsen sollten. Es handelt sich beim Erwachsenwerden vielmehr um eine E r w e i t e r u n g der Möglichkeiten und um eine Verschiebung der Gewichte“ (4, S.5)

Sie hielt musikalische Früherziehungsmodelle, die kulturgeschichtliche Spätstadien wie Dreiklang und Notation zum Ausgangspunkt machen, für verfehlt, wetterte und handelte dagegen. Mit Kindern, deren Souveränität sie entzückte, veranstaltete sie musikalische Zaubereien auf hohem Lernniveau.

Die Magie der Kastanie

Es ist höchst eindrucksvoll mitzubekominen, wenn ein Mensch plötzlich „in sein Element eintaucht“. Oft trafen wir sie kränklich, empfindlich und irritiert von den organisatorischen Vorbereitungen. Dann aber, ihre Trommel in Händen, verflog aller Schatten augenblicklich. Gelöstheit, Konzentration, Vorfreude auf das, was kommen würde, strahlten in ihrem Gesicht und noch etwas mehr: manchmal schien es mir, als richte sie sich leicht nach oben und nähme Kontakt auf ‑ zu wem? Zu Geistern. der heiligen Cäcilie, einem Kobold … ? Das Ergebnis war eine ganz besondere Präsenz, die ihren Einfällen etwas Zwingendes gab, so daß man wohl erschauerte, wenn sie plötzlich den Kontrabaß losschnurren ließ. Eine Kastanienfrucht, die einmal einen solchen Einsatz erfahren hatte, war fortan keine simple Kastanie mehr und wurde beim Umzug inventarisiert. Energie übertrug sich.

Es gab jedoch ein Problem. Wenn nicht alle im gleichen Tonus agierten, waren unterschiedlichen Situationsdeutungen die logische Folge. Schließlich ging es ja um jeweils e i n Musikstück, das arbeitsteilig im Spannungsfeld zwischen Eigenständigkeit und Symbiose gestaltet wurde. Empathie und Abgrenzung waren gleichermaßen zu leisten. Auch in dem Grundgedanken der „Anleitung zur Selbständigkeit“ ist ein Potential an Reibungspunkten enthalten. In den überpersönlichen Spielregeln zwar entschärft, entzündeten sich jedoch nicht selten Autoritätskonflikte an der starken Persönlichkeit Lilli Friedemanns. Daß sie oft als Projektionsfläche diente, sei es als „big mother“, sei es Männern gegenüber, die es nicht vertrugen, daß „eine Frau besser ist“, hat im Laufe ihres Lebens zu manchen Verletzungen und Brüchen geführt.

Schöpferisch oder auch kreativ

In der Lebensspanne von 1906 ‑1991 hat Lilli Friedemann sowohl Ideen der Jugendbewegung als auch der Studentenbewegung mitgestaltet. Das Bild der Spirale kommt in den Sinn, kulturpolitische Impulse, die sich in veränderter Form wiederholen. Die „Entwicklung schöpferischer Kräfte“ und „Laienmusik“ waren vertraute Kategorien, die 1968 „Kreativität“ und „Chancengleichheit“ hießen. In traditioneller Improvisation war Lilli Friedemann längst zu Hause und praktizierte sie zeitlebens neben den neuen Formen weiter. Das neue Material waren Klänge, Geräusche und ametrische Strukturen. Darin war nichts Rückwärtsgerichtetes, von biederem Schönklang keine Spur. Überzeugend mußte es sein, schön vielleicht, wenn Kraft des Ausdrucks damit gemeint ist. Es ging um Deutlichkeit, Differenziertheit, und darum, die Lebensdauer von klanglichen Situationen gestaltend zu erfassen. In der Liebe zu Natur und Musik bezog sie beides aufeinander. Auf Spaziergängen, bei denen sie Asphalt möglichst umging, sann sie über die Verwandtschaft zwischen natürlichen und musikalischen Strukturprinzipien nach. Ihre Betrachtungen sind ausgezeichnete Erläuterungen ihrer musikalischen Ideen ‑ wie diese von 1982:

„Bäume weisen erstaunliche Strukturen auf. Diese entstehen aus gegenseitiger Beeinflussung von Material und den dem Baum innewohnenden Formgedanken. Dazu gibt der fördernde oder hemmende Einfluß von Wetter und Jahreszeiten den Strukturen ihren speziellen Charakter … Eine Struktur, die symmetrisch „gemeint“ war aber durch bestimmte Einwirkungen verschrägt oder verschreckt wurde, kann dem Auge besonders gefallen … Wie umweltbedingte Risse und Verformungen der Struktur eines Baumstammquerschnitts ihren besonderen Reiz geben, macht auch eine (emotionell bedingte?) Gegenaktion oder „Störung“ ein an sich in der Atmosphäre einheitliches Gefüge spannend und gibt ‑ häufig ‑ Anlaß zu Veränderungen.

Wie steht es mit Strukturen, die sich ändern bzw. aus Bewegung bestehen? Hier das Beispiel der Meereswellen. Der Wind greift sie an und treibt sie in eine immer wiederkehrende (ostinate) Formveränderung. Man kann dies wegen der fortgesetzten stets variierten Wiederholung als „strukturierten Vorgang“ bezeichnen. Bei den schnellen Veränderungen ist hier ZEIT für uns sichtbar, fühlbar, hörbar. Sie ist dies im übrigen auch bei allem, was wächst, aber meist in einem so langsamen Tempo, daß wir nur das jeweilige Stadium erkennen und dieses darum als statische Struktur betrachten…

Ob Hörer das Suchen und Finden von Strukturen wahrnehmen und als Musik akzeptieren mögen, obgleich wir auf die alten Strukturen aus metrischem Rhythmus, Melodie und Harmonie weitgehend verzichten?“

Manchmal fantasierte ich: hätte Lilli Friedemann einen geschickten Promotor für Präsentation, gehörte sie gar zum Geschlecht 01…, sie wäre keine Pädagogin, sondern eine Leitfigur der Avantgarde… wäre, hätte… Bedeutend und originell war sie.

Literaturhinweise:

  1. Gemeinsame Improvisation auf Instrumenten, Kassel 1964
  2. Kinder spielen mit Klängen und Tönen, Wolfenbüttel 1971.
  3. Kollektivimprovisation als Studium und Gestaltung neuer Musik, UE Wien, 1969; Rote Reihe 7.
  4. Einstiege in neue Klangbereiche durch Gruppenimprovisation, UE Wien 1973; Rote Reihe 50.
  5. Trommeln‑Tanzen‑Tönen, UE Wien 1983; Rote Reihe 69